Warum lügen KinderWarum lügen Kinder? Immer wieder berichten mir Eltern, dass sie ganz erschüttert darüber seien, dass ihr Kind lüge. Es scheint so was wie ein (gesellschaftlicher und familiärer) Regelverstoss, der einem an der eigenen Erziehungskompetenz und dem moralischen Verhalten des Kindes zweifeln lässt.

Wie sollten wir dem begegnen? Ist Bestrafen der richtige Weg, um dieses „Fehlverhalten“ so rasch wie möglich unterbinden können? Ich meine NEIN und möchte Ihnen empfehlen einen anderen Weg einzuschlagen.

Lügen ist für viele Erwachsene ein höchst unmoralisches Verhalten, wobei uns selber wohl oft gar nicht bewusst ist wie oft wir selber lügen (oder zu einer Notlüge neigen). Und daher gilt es doch dieses „Fehlverhalten“ so rasch wie möglich zu unterbinden.

Viele Eltern sind der Meinung, dass dieses Verhalten bestraft werden müsste. Und leider haben wir Eltern noch immer sehr stark die Vorstellung, dass wir nur durch Bestrafung unerwünschtes Verhalten beseitigen können.

Perspektivenwechsel:

Wenn wir uns erlauben weniger auf die Tatsache zu achten, dass ein Kind lügt, sondern eher zu fragen, warum ein Kind lügt, sehen wir oft ein anderes Bild.

Bei Kleinkindern schmunzeln wir noch darüber, dass sie etwas nicht ganz so korrekt erzählen („sie wissen es ja noch nicht besser!“) und ihre eigenen durchschaubaren Erklärungen finden, eigenes Fehlverhalten oder Missgeschick zu vertuschen. In etwa so: „Nein Mami, ich habe das Glas nicht umgeschüttet, es war der Teddybär…“

Irgendwann stellen wir jedoch fest, dass unsere Kinder die Fähigkeit entwickeln uns zu täuschen bzw. versuchen zu täuschen. Das heisst, wir merken, dass das Kind selber weiss, dass das was es uns berichtet nicht (ganz) den Tatsachen entspricht. Das nennen wir eine Lüge.

Warum lügen Kinder? Was steckt eigentlich hinter einer kindlichen Lüge?

Wenn wir solche Situationen genauer anschauen, irritiert uns immer wieder, dass die Kinder selber nicht merken wie durchschaubar sie eigentlich sind. Und zwar nicht nur, weil die Mimik sie verrät und wir unsere Kinder ja auch gut kennen sondern auch, weil die Situation selber durchschaubar ist.

Warum lügen Kinder? Ein Beispiel aus der Praxis soll dies verdeutlichen:

Eine Mutter berichtete mir, dass ihre Tochter sie immer wieder anlüge und das gehe doch gar nicht. Sie fragte mich direkt, was ich ihr den raten würde, was sie dagegen tun solle. Ohne bereits auf die Ebene eines Ratschlages einzugehen, interessierte mich v.a. warum das Kind lügt bzw. der Mutter nicht die Wahrheit sagt. Daher bat ich die Mutter mir Beispiele zu nennen. Die Mutter beschrieb daraufhin: Letzthin klingelte es an der Türe. Ihre 6 jährige Tochter habe die Türe geöffnet und mit der Person vor der Türe kurz gesprochen. Danach sei sie ins Wohnzimmer zurückgekommen. Sie habe das Kind gefragt, wer es denn gewesen sei. Das Mädchen habe geantwortet: „Niemand.“ Auf das irritierte Nachfragen der Mutter bekräftigte das Mädchen, dass niemand vor der Türe stand. Daraufhin sei eine Diskussion entstanden, dass sie die Tochter doch mit jemanden sprechen gehört habe usw. Die Mutter meinte: Das gehe doch nicht, es sei doch offensichtlich, dass die Tochter sie belogen habe… Verständlicherweise hat die Mutter auf „das Verhalten (Lügen)“ der Tochter mit moralischen Appellen reagiert. Vor lauter Empörung hat die Mutter es aber unterlassen zu überlegen, warum ihre Tochter sich so verhalten hat. Und von mir erwartete sie nun einen Ratschlag, wie sie auf dieses Verhalten reagieren sollte.

Was steckt hinter dem kindlichen Verhalten?

Wie aber sollte ich ihr bzw. dem kindlichen Verhalten entsprechend eine angemessene Empfehlung geben, wenn ich nicht verstanden habe, warum sich das Kind so verhalten hat? Ich fragte also nach und ich erfuhr, dass die Mutter herausgefunden hat, dass an der Tür eine unbeliebte Nachbarin der Mutter stand, mit der die Mutter immer wieder Streit hatte.

Das Mädchen habe dieser Frau mitgeteilt, dass die Mutter nicht da sei und daraufhin die Tür wieder verschlossen. Gemeinsam konnten wir schliesslich herausfinden, dass die Tochter sich oder gar die Mutter vor einer weiteren verbalen Auseinandersetzung schützen wollte und kurzerhand die (entschuldigen Sie) geniale Lösung fand mitzuteilen, dass die Mutter nicht da sei.

 

Um was geht es also?

Wenn wir also auch hier (vgl. Artikel Kinder verstehen – was hilft) genauer hinschauen, WARUM sich ein Kind so verhält und verstehen, was seine möglichen Ziele, Wünsche und Vorstellung der Situation sind, können wir entdecken, dass es häufig in erster Linie NICHT darum geht, die Eltern oder erwachsene Bezugsperson (häufiger trifft es ja auch Lehrpersonen) zu betrügen, sondern oft auch, sich vor etwas zu schützen oder einfach ein eigenes Bedürfnis zu befriedigen.

Lügen um sich und / oder andere zu schützen

Kinder lügen sehr oft um sich vor Strafen, „Moralpredigen“ oder Enttäuschungen zu schützen ohne dabei zu merken, dass sie mit ihren Lügen alles noch schlimmer machen und dadurch erst recht solche Reaktionen provozieren.

Mit unseren Reaktionen bestätigen wir dann schliesslich auch ihre Befürchtungen, und so kommt es zu einer gegenseitigen negativen Verstärkung. Das Vermeidungsverhalten hat auch damit zu tun, dass sie die Auswirkungen ihres Verhaltens noch nicht so gut abschätzen können, im Hier und Jetzt Leben und oft noch nicht die Aussenperspektiven einnehmen können.

Sie möchten in erster Linie etwas Unangenehmes vermeiden und zwar sofort.

Und wenn wir ehrlich sind, tun wir Erwachsene das gleiche auch sehr oft. Nur sind wir dabei viel geschickter als Kinder. Aber oft sind auch wir nicht ganz ehrlich um uns oder einen geliebten Menschen zu schützen. Auch das sind genaugenommen Lügen. – Oder eben: Unehrlichkeiten um uns und andere vor Verletzungen zu schützen.

Manche Kinder und Erwachsene sind so gut in dieser Aufgabe (sich oder andere zu schützen), dass sie die Wahrheit ganz verdrängen. Daher erleben wir auch, dass Kinder sehr hartnäckig an „ihrer Wahrheit“ festhalten auch wenn wir sie mit der Realität konfrontieren.

Zentral ist also die Frage der Absicht:

Geht es um die Manipulation eines andern Menschen oder um ein eigenes Bedürfnis?

 


 

Warum lügen Kinder?

Lügen um ein eigenes Bedürfnis zu befriedigen

Ja, natürlich gibt es auch Lügen, bei denen es weniger um Schutz geht als einfach darum ein eigenes Bedürfnis (nach Schokolade, mehr Fernsehzeit, nach Zuwendung, …) zu befriedigen. Sind diese Wünsche egoistisch? Sind sie unmoralisch?

Nein, bei genauerer Betrachtung merken wir, dass sie oft einfach menschlich und legitim sind. Wir sollten uns also Fragen, warum das Kind sein Bedürfnis nicht direkt aussprechen kann sondern zu einer Lüge greift bzw. greifen muss.

Und wir sollten dann weniger auf die Lüge reagieren als dem Kind eine Erklärung bieten, warum es sein Bedürfnis jetzt nicht befriedigen kann. – Bedürfnisaufschub bzw. –verzicht ist übrigens eine der Hauptaufgaben, die ein Kind in seiner Entwicklung lernen muss; wir dürfen dies auf keinen Fall einfach so voraussetzen.

Welchen Ratschlag kann man also einer Mutter geben, wie sie auf ihr Kind reagieren soll, wenn es sie aus oben beschriebenen Absichten belügt?

TIPP 1

Achten Sie auf die Absicht „hinter der Lüge“

Was teilt das Kind mit, wenn wir „hinter die Lüge“ schauen?

Vielleicht: Ich mag diese Auseinandersetzungen nicht, sie machen mir Angst.

Oder: Ich wollte dich vor dieser Frau schützen, sie tut dir nicht gut.

Oder: Gerade hast du noch so schön mit mir gespielt, ich will nicht, dass das jetzt aufhört, ich will mehr Zeit mit dir verbringen.

TIPP 2

Reagieren Sie auf diese Absicht (warum das Kind lügt) und die damit verbundenen Gefühle und Bedürfnisse des Kindes.

Das könnte dann vielleicht so aussehen:

Ich kann mir vorstellen, dass es für dich schwierig ist, wenn ich und Frau X uns streiten. Mir gefällt das auch nicht. Aber nur wenn ich mit Frau X spreche, können wir Erwachsenen das klären. Das war lieb gemeint von dir, aber es geht nicht, dass du einfach sagst, ich bin nicht da…

Wenn wir auf das eigentliche „Thema“ (Absicht, Gefühle, Ängste, Bedürfnisse,…) beim Kind eingehen und hier Klarheit schaffen, müssen wir teilweise gar nicht mehr auf die eigentliche „Lüge“ eingehen.

Denn die tritt plötzlich in den Hintergrund bzw. in ein ganz anderes Licht.

Lügen werden somit zu kindlichen, unangemessenen Lösungsversuchen für ein dahinterliegendes Problem, welches eine eigentliche Lösung braucht.

Ihre

Sara Michalik


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