Immer wieder stelle ich fest, dass wir Eltern so sehr mit einem Problemverhalten unseres Kindes beschäftigt sind, dass wir gar nicht dazu kommen oder uns in der Lage fühlen, darüber nachzudenken, warum sich das Kind überhaupt so verhält.
Wir haben oft schon alles Mögliche versucht um dieses Verhalten zu beseitigen: Geduld gezeigt, ermahnt, ignoriert, geschimpft, … Nur das eine nicht: Wir haben nicht in Ruhe überlegt und versucht herauszufinden, um was es da eigentlich geht!
Um was geht es da eigentlich?
Warum tut mein Kind das?
Meine Sechsjährige kommt Mittags von der Schule nach Hause, lässt bereits beim Eingang alles liegen und stehen, beschäftigt sich mit dem Zwerghasen ohne die geringsten Anstalten an den Tisch zu kommen, kommt auch nach mehrmaligem Rufen nicht an den Tisch und schliesslich beginnt sie praktisch aus dem Nichts herumzutoben, so dass ich spätestens jetzt klare Grenzen aufziehen muss. Doch sie lässt sich nicht beruhigen, provoziert permanent weiter und bringt mich innert kurzer Zeit an meine Energiegrenzen. Ich merke, dass sie meine volle Aufmerksamkeit auf sich zieht – dabei wäre jetzt eigentlich Essenszeit und die älteren Brüder bekam bisher noch kaum Aufmerksamkeit oder Beachtung von mir…
Leider hat mich die Dynamik so dermassen in einen Bann gezogen, dass ich in diesem Moment nur noch auf das Verhalten der Tochter fixiert bin und keine Chance habe aus einer Distanz und Gelassenheit die Situation einzuordnen.
Denn eigentlich hätte mir auffallen müssen, dass ihr Verhalten eine Ursache hat, die nichts mit mir oder dem Zuhause zu tun hatte. Wäre ich nicht so sehr mit ihr und ihrem provokativen, grenztestenden Verhalten absorbiert gewesen, hätte ich feststellen können, dass sie bereits völlig „neben sich“ Zuhause ankam, und dass sie mit ihrem Verhalten v.a. eines erreichte: Meine volle Aufmerksamkeit zu bekommen, wenn auch auf eine negative Art und Weise.
So kam es zum Streit, zu Tränen, zu einer Zuspitzung der Situation. Meine Tochter betitelte mich als „gemein“, konnte meine Reaktion auf ihr (meines Erachtens) unangemessenes Verhalten (nicht gehorchen, freche Antworten, rumschreien,…) nicht verstehen und weinte schliesslich bitterlich.
Erst da brach es aus ihr heraus: „Heute sind alle so gemein zu mir“. – „Ich bin nicht gemein zu dir, wenn du aber nicht…“ wollte ich schon entgegnen, doch ein Wort machte mich wachsam: ALLE. „Was meinst du damit, ALLE sind so gemein?“
Endlich konnte sie berichten, was in der Schule vorgefallen ist. Sie weinte bitterlich, berichtete davon, wie sie wegen einer scheinbar schlechten Leistung von anderen Kindern ausgelacht wurde und so weiter. Sie berichtete und berichtete und liess sich trösten, liess sich in den Arm nehmen und beruhigte sich.
Und mir wurde wieder einmal klar, wie schwierig es für Kinder manchmal ist, ihre Kränkungen und Verletzungen direkt in Worte zu fassen. Kinder kommen höchst selten nach Hause und sagen: Hey Mami, heute habe ich in der Schule etwas Trauriges erlebt…
Stress bei Kindern:
Oft tragen sie solche Dinge mit sich herum und drücken es, im besten Fall über ihre Emotionen (wir merken dann, dass unser Kind traurig oder wütend ist) oder über ein schwieriges Verhalten (suchen Streit mit dem Geschwister, gehorchen weniger oder lassen die Schuhe aus Protest mitten im Weg stehen) aus.
Wenn sie durch etwas verletzt oder gekränkt wurden, zeigen sie diese schwierigen Seiten zumeist da, wo sie sich am sichersten fühlen: Zuhause bei den Eltern. Viele Kinder tragen Probleme, die sie in der Schule erleben Zuhause aus bzw. nehmen diese Themen mit nach Hause.
Aus therapeutischer Sicht versteht man ein auffälliges Verhalten eines Menschen als einen Lösungsversuch um etwa ein Problem zu beseitigen oder ein Bedürfnis zu befriedigen.
Das bedeutet also, dass ein Problemverhalten oft eigentlich ein Lösungsversuch ist.
3 Beispiele aus der psychotherapeutischen Praxis
(die Namen sind alle geändert, die Situationen leicht verstellt, so das eine Übereinstimmung höchstens Zufall ist):
- Trotz den grössten Bemühungen der Mutter gelang es nicht den 8 jährigen Max am Morgen rechtszeitig aus dem Haus zu schicken. Alles Bitten, Drängeln, Drohen und Schimpfen brachte nichts, Max verliess das Haus immer in der letzten Minute und hatte immer einen anderen Grund (fand etwas nicht, ass langsam, musste noch aufs Klo,…), warum er zu spät das Haus verliess. – Wohlbemerkt; Max kam pünktlich in der Schule an, musste aber sehr schnell und ohne die Nachbarskinder hinlaufen. Als ich die Mutter ermutigte dieses Verhalten einmal einfach so hinzunehmen und ihre Energie mehr in die Richtung zu lenken, WARUM Max das wohl tut, fand sie innerhalb einer Woche einen Weg um herauszufinden, dass Max von zwei Nachbarsjungen auf dem Schulweg geplagt wurde und daher das gemeinsame zur Schule laufen vermied. Die Mutter stellte fest, dass es gar nicht um sie oder ein Problem zu Hause oder in der Schule ging, sondern um ein anderes schwerwiegendes Anliegen unter dem Max litt.
- Julia war immer so ein braves, angepasstes, problemloses Kind, doch seit mehreren Wochen könne die 9 jährige abends nicht mehr selber einschlafen und wolle ständig ins Bett der Eltern kommen. Im Gespräch mit den Eltern wird deutlich, dass diese seit Jahren v.a. mit dem jüngeren Bruder, der immer schon viel Aufmerksamkeit brauchte, beschäftigt waren und sich nun extrem belastet fühlen, weil nicht nur das Verhalten des Bruders zunehmend schwieriger wurde, sondern nun auch noch Julia plötzlich so viel abverlangte. Die Eltern können schliesslich erkennen, dass Julia immer so gut „funktionierte“, dass die Eltern ihr immer weniger Aufmerksamkeit schenkten als dem Bruder. Julia holte sich schliesslich die Zuwendung am Abend, als ihr kleiner Bruder endlich schlief… Mit dieser Erkenntnis schafften es die Eltern die berechtigten Bedürfnissen von Julia nach Zuwendung anzuerkennen und Julia eine angemessene Zuwendung zu schenken.
- Janik wurde mir von seinen Eltern angemeldet mit der Frage, ob er ein ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung) habe. In der Schule gehe es eigentlich recht gut, aber Zuhause sei er v.a. Abends sehr unruhig. In einer längeren Arbeit mit Janik konnte ein ADHS ausgeschlossen werden. Janik lernte zu formulieren, dass er merke, dass er v.a. dann unruhig werde, wenn der Vater gestresst von der Arbeit nach Hause komme. Die Unruhe lenkte die Aufmerksamkeit und Wut des Vaters auf sich. Der Junge spürte, der Vater ist wütend, aber nicht auf ihn als Junge, sondern auf sein unruhiges Treiben. Das fühlte sich für das Kind viel besser an als das Gefühl, der Vater sei wütend auf ihn. Gemeinsam mit dem Vater konnten wir erkennen, dass es ein Versuch von Janik war, die Gereiztheit auf etwas zu lenken, dass der Junge vermeintlich im Griff hatte und somit mit-steuern konnte.
Diese Beispiele wurden natürlich alle recht verkürzt dargestellt und bei komplexen Problemverhalten ist es häufig nicht immer einfach zu verstehen, was das „Problem“ bzw. die Ursache für ein Problemverhalten ist.
Insbesondere bei langanhaltenden Problemen mit grossem Leidensdruck oder weitreichenden Folgen (z.B. Auswirkungen auf den Schulalltag) muss eine sorgfältige Abklärung vorgenommen werden. Und dennoch:
Der Ansatz, dass hinter einem Problemverhalten ein eigentlicher Lösungsversucht steckt, ist ein sehr hilfreicher und wertvoller Ansatz aus der Systempsychologie.
Aus meiner Erfahrung als Kindertherapeutin UND Mutter kann ich bekräftigen: Es lohnt sich diesen Ansatz zu verfolgen – sowohl bei komplexen und sehr schwierigem Problemverhalten wie auch bei kleineren „Alltagskrisen“.
Welcher Lösungsversuch verbirgt sich hinter dem Problemverhalten?
Insbesondere dann, wenn wir das aktuelle Verhalten eines Kindes nicht direkt einordnen können, kann es sehr hilfreich sein, wenn wir versuchen herauszufinden, was das eigentliche Problem sein könnte.
Denn: Viele Kinder leiden unter Problemen und Stress.
Stress bei Kindern.
Die FAZ hat dazu einen interessanten Artikel geschrieben:
Viele Eltern nehmen Kinderstress kaum wahr
Und bereits Kleinkinder geben viele Zeichen
Die ganze Sammlung der einzelnen Filme finden Sie hier:
Stress bei Kindern
Wege, wie wir herausfinden können, was das eigentliche Problem ist:
- Die Aufmerksamkeit nicht (nur) auf das Problemverhalten richten und dieses ändern wollen.
- Herausfinden: Was ist das Bedürfnis des Kindes? Was könnte sein Anliegen sein.
Ein weiterführender Artikel zum Thema Kinder verstehen finden Sie hier.
- Distanz zur Situation gewinnen; nicht mit der kindlichen Reaktion „mitdrehen“. Dazu gehört, dass das schwierige Verhalten des Kindes auch nicht persönlich genommen werden darf. Das Kind verhält sich nicht so, weil es mir als Mutter / Vater schaden möchte, sondern weil es im Moment keine andere Reaktion kennt.
- Eine Aussenpersektive von einer befreundeten Person einholen. Wie erleben die Grosseltern das Kind? Wie nehmen sie das Kind wahr? Zeigt sich hier das Problemverhalten überhaupt? Wie gehen sie mit dem Problemverhalten um?
- Neugierig sein und herausfinden: Wo bzw. in welcher Situation zeigt sich das Problemverhalten NICHT. Wo gibt es Ausnahmen?
- Wann hat es begonnen? Was war vorher anders? Vielleicht findet sich eine mögliche Ursache, eine Ausgangssituation.
- Selbstkritisch sein. Das Verhalten / die Reaktion des Kindes hat evt. etwas mit mir zu tun. Welchen Anteil habe ich? Welche Reaktion von mir trägt dazu bei, dass sich die Situation eher entspannt, welche verschärft das ganze nur noch? Welchen Anteil habe ich an der Interaktion?
Hier finden Sie 20 Reflexionsfragen für ein bewusstes Erziehen.
- Manchmal sind vollkommen unerwartete Reaktionen die besten. Als Mutter erlebe ich immer wieder, dass mich meine Kinder wegstossen, ablehnen, provozieren,… Wenn ich sie dann in den Arm nehme und einfach nur halte, zeigt sich dann, dass dies genau das war, was das Kind im Moment brauchte. Es kommt aber nicht und sagt „Hey, tröste mich“, sondern es sucht auf eine andere, in Notlagen manchmal auch negative Art und Weise meine Aufmerksamkeit. Ganz wichtig ist generell: In Beziehung bleiben. Ich erfahre nichts über die inneren Nöte eines Kindes, wenn ich das Kind alleine ins Zimmer schicke…
Das Wichtigste zuletzt:
- Offene und persönliche Gespräche mit dem Kind führen: Wobei es nicht darum geht, dass Kind zu fragen, was das Problem sei, denn diese Frage können die Kinder oft nicht direkt beantworten. Es geht vielmehr darum, ein Gespräch mit dem Kind zu führen über dies und das. Wertvolle Zeit mit dem Kind zu verbringen und ihm dadurch zu signalisieren: Ich bin für dich und deine Sorgen da.
Hilfreich ist dabei:
- Dem Kind mögliche Vermutungen in Form von Hypothesen anbieten: Könnte es sein, dass du … Hilfreich ist oft, wenn man seine Vermutungen auch nicht direkt dem Kind selber zuschreibt, sondern von sich selber oder jemanden anderem berichtet, der möglicherweise etwas Ähnliches erlebt hat. Beispielsweise so: „Als ich so alt war wie du, hat es mich sehr gestresst, dass die anderen Kinder immer meine Noten kennen wollten. Ich war im Deutsch immer sehr schlecht und oft schämte ich mich für meine schlechte Note. Kennst du dieses Gefühl?“
- Dem Kind gegenüber auch eigene Fehler und Schwächen eingestehen. In der Beziehung und Gespräch mit dem Kind ehrlich und authentisch sein. Dazu gehört, dass man sich z.B. dafür entschuldigt, dass man keine Zeit hatte wirklich hinzuhören, was das Kind für eine Sorge hatte. Oder dass man sehr grob auf das Verhalten des Kindes reagiert hat, weil man nicht verstanden hat, was das Kind für eine innere Not hat. Man darf dem Kind ruhig auch mal erklären, dass man selber manchmal auch gestresst ist und daher nicht immer richtig und angemessen reagiert.
Ihre
Sara und Peter Michalik
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